„Nicht nur Radiergummi, Bleistift und Faxgerät müssen ausgetauscht werden“ – Interview mit Dorothea Winter

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Dorothea Winter promoviert an der Humboldt Universität zu Berlin in Philosophie und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humanistischen Hochschule Berlin. Sie hat am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz gearbeitet und publiziert in Medien, hält Vorträge und diskutiert auf Panels zum Themenspektrum Digitalisierung und KI.

Foto: Charlot van Heeswijk

Natascha Heinisch: Von der Pflege (Stichwort Pflegeroboter), über Medizin (Stichwort Diagnose durch KI), über die Vorhersage von Naturkatastrophen bis hin zur Jurisprudenz gibt es unzählige Möglichkeiten für KI. Kannst du uns grob umreißen, womit du dich beschäftigst?

Dorothea Winter: Durch Digitalisierung und KI werden wir auf die grundlegenden Fragen der Philosophie zurückgeworfen, die es seit über 2000 Jahren gibt. Durch KI müssen wir sie neu beantworten, was eine sinnstiftende und spannende Aufgabe ist. Digitalisierung und KI berühren Aspekte des Alltags, der Wirtschaft, Politik und Kultur. Diese Aspekte müssen alle philosophisch eingeordnet werden: Wie können wir die Gesellschaft, unser Miteinander, unsere demokratischen Prozesse ethisch wünschenswert gestalten?

Natascha Heinisch: Was schätzt du denn am meisten an Künstlicher Intelligenz? 

Dorothea Winter: KI ist kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, dass wir alles digitalisieren oder ersetzen wollen. Wir müssen uns überlegen, in welchen Bereichen es sinnvoll ist. Wo macht KI Prozesse schneller, billiger, besser? Wo kann KI uns Menschen zu mehr Freiheit für kreatives Arbeiten verhelfen, uns reproduktive Aufgaben ersparen und Möglichkeiten für mehr Kreativität und mehr kreative Aufgaben schaffen?

Natascha Heinisch: Frauen arbeiten häufiger in Teilzeit, weil sie in heterosexuellen Beziehungen mehr Care-Arbeit übernehmen. Welchen Beitrag können Digitalisierung und KI leisten, damit Erwerbsarbeit und Sorgearbeit paritätisch aufgeteilt werden?  

Dorothea Winter: Es gibt eine sachliche Notwendigkeit von Care-Arbeit und Hausarbeit. Das führt zum Gender Pay Gap, da diese vorrangig von Frauen übernommen werden. Das ist erstmal eine Sachlage, und für diese Sachlage brauchen wir ein gesellschaftliches Korrektiv. Das Problem ist, dass soziale Gerechtigkeit ein nicht vermarktbares Gut in unserem kapitalistischen System ist und wir uns als Gesellschaft überlegen müssen, wie wir das Problem lösen können. Und da kommt KI ins Spiel: Zunächst einmal könnte KI helfen, grundlegende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten anhand von Big Data sichtbar zu machen. KI schafft die Möglichkeit, Prozente und Zahlen unkompliziert und übersichtlich aufzubereiten. Im zweiten Schritt gibt sie uns die Möglichkeit, Zielvorstellungen zu definieren – z.B. gleiche Bezahlung von Frauen. Dieses Ziel könnte in die KI einprogrammiert und so use cases modelliert werden. Ein use case (Anwendungsfall) fasst alle möglichen Szenarien zusammen, die eintreten können, wenn wir versuchen, mit Hilfe des betrachteten Systems ein bestimmtes Ziel zu erreichen. So können die Stellschrauben aufgezeigt werden, an denen wir drehen können, um Gleichheit zu erreichen. Technisch ist das schon jetzt sehr leicht umzusetzen. KI ist nur das Tool, aber die Zielsetzung muss gesellschaftlich festgelegt werden, alle Stakeholder müssen mit ins Boot geholt werden – nicht nur die Politik, sondern auch Zivilgesellschaft, NGOs, Wissenschaft und die Privatwirtschaft.

Natascha Heinisch: Eine Verkürzung der Normalarbeitszeit für alle könnte ein Schritt in Richtung fairer Aufteilung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit darstellen und uns allen ein Stückchen mehr Freizeit verschaffen. Inwieweit wäre das dank Digitalisierung und KI möglich? 

Dorothea Winter: Es ist nicht damit getan, dass Arbeitszeit reduziert wird (z.B. für Care-Arbeit), denn dann wäre die Schlussfolgerung: Freizeit gleich Care-Arbeitszeit. Wichtiger wäre, sich zu überlegen, wie Care-Arbeit entlohnt werden kann. Hier kann Digitalisierung in verschiedener Hinsicht helfen. Groß gedacht wäre das z.B. Robotereinsatz für körperliche Arbeiten, z.B. bei der Pflege von Angehörigen. Menschen zu heben ist für diejenigen, die das leisten müssen, unglaublich anstrengend, und Roboter könnten das erleichtern. Auch die Essensverteilung oder das Saubermachen in Einrichtungen sind weitere Möglichkeiten. Verwaltungsaufgaben müssen ebenfalls viel mehr digitalisiert werden. Barrieren müssen hier niedriger gesetzt werden; z.B. sind Pflegegeldanträge für viele oft zu schwierig und die Hemmschwelle auf dem Weg zum Geld ist zu hoch. Chatbots und digitale Tools können hier eine große Hilfe sein (natürlich immer unter Beachtung der DSGVO). Ganz „banal“ wäre aber z.B. auch das Kontakthalten zu Angehörigen dank Digitalisierung. Alterseinsamkeit kann durch mehr digital ermöglichten Kontakt stärker bekämpft werden.

Natascha Heinisch: Viele sorgen sich, dass KI ihnen die Arbeit nicht erleichtern, sondern sie ersetzen wird – und die Utopie von den weniger Stunden mit gleichem Gehalt nicht aufgehen wird. Wie siehst du das?

Dorothea Winter: Im Grunde sollte das eine Hoffnung sein und keine Sorge, weil Arbeit in den meisten Fällen kein Selbstzweck ist, sondern das Geld und der Wert nur an Arbeit gekoppelt sind. Der Selbstwert, der soziale und gesellschaftliche Wert werden nur in Arbeit gemessen. Es gibt genug Güter, aber die Verteilung ist das Problem. Es wird Jobs geben, die in ein paar Jahren nicht mehr nur von Menschen verrichtet wird. Aber wir müssen uns Gedanken machen, wie wir gesellschaftlich damit umgehen. Wir müssen schauen: Wo können wir Menschen einsetzen, und wie und warum überhaupt?

Natascha Heinisch: Hast du auch eine Seite, die KI kritisch gegenübersteht? 

Dorothea Winter: Pflegeroboter sind nicht an sich aufgrund eines bösen Willens problematisch, können das aber im Miteinander sein, gerade wenn Menschen nicht mehr einschätzen können, wer dahintersteckt. Mit Einsamkeit zu spielen ist hochproblematisch. Entscheidungen, z.B. bei Anträgen, können durch KI vorbereitet werden, aber die Entscheidung muss in menschlicher Hand liegen bleiben. Menschliche Kontrolle und Verantwortung sind entscheidend. Bei allen dystopischen Spielerein muss man aber auch immer beachten, dass KI ein Werkzeug ist, wie ein Messer. Ich kann damit Kräuter hacken oder jemanden verletzen, das hängt aber nicht vom Werkzeug ab, sondern von der Person, die es benutzt. Für ein Messer (und auch für KI) ist keine neue Ethik und keine neue Gesetzgebung nötig, wir müssen nur schauen, dass ihr Einsatz reguliert und ethisch wünschenswert gestaltet wird.

Natascha Heinisch: Inwieweit können Digitalisierung und KI nicht nur für Frauen, sondern auch für Menschen, die eine Behinderung haben, keine Akademiker:innen sind oder nicht weiß sind, den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern? 

Wie gesagt kann Ungleichheit erst einmal sichtbar gemacht werden. Die Deutung liegt dann wieder bei uns Menschen. Ich könnte mir z.B. ansehen, wie viele PoC an der Frankfurter Börse arbeiten. Wenn wir die (wohl schockierenden) Zahlen sehen, können wir überlegen, ob ein strukturelles Problem vorliegt (die Antwort ist ja!) und wie wir es lösen können. Für Menschen mit Behinderung kann Digitalisierung /KI ein Tool sein, um Nachteile auszugleichen. Durch KI ist eine barrierefreiere Gestaltung möglich, z.B. durch Vorlesetools oder Chatbots. Die Tätigkeiten für Menschen mit Behinderung können erweitert, also z.B. repetitive Sortierarbeiten durch KI ersetzt und durch sinnstiftendere Aufgaben wie z.B. Garten- oder Tierpflege ersetzt werden. Hier wiederum können durch Anleitung über digitale Tools Menschen inklusiver in Bereichen eingesetzt werden, wo das heute noch nicht möglich ist. 

Natascha Heinisch: Wie können KI und Digitalisierung auch bei Arbeiten, die vor Ort verrichtet werden müssen, zu mehr Flexibilität führen?

Dorothea Winter: Ein Ansatzpunkt ist sicher unsere Denkweise. Digitalisierung durch die Bank ist nicht die Lösung. Nicht nur die Tools müssen digitalisiert werden, sondern auch das Denken muss sich ändern. Nicht nur Radiergummi, Bleistift und Faxgerät müssen ausgetauscht werden, sondern auch die Denkweise. Wir haben alle verstanden, dass Meetings digital möglich sind. Die spannenderen Bereiche sind die, wo man bisher dachte, dass digitalisierte Unterstützung nicht möglich ist. Ein Beispiel: die Pflege von Pferden. Vieles ist hier hochkomplex und beruht nur auf Erfahrung und mündlicher Weitergabe von Informationen. Fällt jemand weg, geht das Wissen verloren. Transparenz und Wissenstransfer könnte man durch Digitalisierung viel besser gestalten.

Natascha Heinisch: Welchen Beitrag müssen wir als Gesellschaft – ob Politik, Wirtschaft oder auch Privatpersonen – leisten, damit wir uns die Vorteile von Digitalisierung und KI auch wirklich zunutze machen können?  

Dorothea Winter: Stärkere Vernetzung. Viele Bereiche können nicht mehr allein gedacht werden, was alles vielfach komplexer macht. Transparenz muss gewährleistet werden. Überall, wo digitale Tools eingesetzt werden, muss klar sein: In welchem Bereich geschieht das, was passiert und warum werden sie eingesetzt. Das beugt Ängsten vor und sichert Kontrolle und Verantwortung. Wenn ich KI einsetze in einem Bereich, bin ich dafür verantwortlich.

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