„Freizeit ist ein Menschenrecht“ – Interview mit Teresa Bücker

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Als freie Autorin und Journalistin setzt sich Teresa Bücker seit über 15 Jahren mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinander. Ihre feministischen Perspektiven auf Gegenwart und Zukunft veröffentlicht die preisgekrönte Publizistin in ihrer Kolumne „Freie Radikale“ oder diskutiert sie im Podcast „Die feministische Presserunde“. 2022 ist ihr Sachbuch „Alle_Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“ erschienen. Im Interview mit Konstantin Rohé spricht sie darüber, warum Zeitgerechtigkeit zentral für Gleichberechtigung ist.

Foto: Paula Winkler

Konstantin Rohé: Im Oktober 2022 erschien Ihr Buch „Alle_Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“. Es ist ein Plädoyer für eine radikale Umverteilung von Zeit. Warum braucht es diese Umverteilung?

Teresa Bücker: Das ist eine der Kernthesen des Buches: Ohne eine Umverteilung der Zeit ist keine Gleichberechtigung zu erreichen. Wer kann seine Zeit für welche Dinge verwenden? Wir sehen innerhalb der Gesellschaft, dass das sehr stark über Strukturen vorbestimmt ist, wer beispielsweise die eigene Zeit für bezahlte Arbeit aufwenden kann, wer hingegen viel Zeit mit unbezahlter Arbeit verbringen muss, oder auch, wie freie Zeiten etwa für Engagement verteilt sind. Wenn wir wirklich Gleichberechtigung erreichen wollen, und es ist ja höchste Zeit dafür, dann müssen wir daran etwas ändern, dass wir die Tätigkeiten, mit denen wir unsere Zeiten verbringen, gerechter verteilen.

Konstantin Rohé: Sie sind derzeit auf Lesereise mit Ihrem Buch und sind viel unterwegs. Wie ist Ihr eigenes persönliches Verhältnis zu Zeit? Und wie verhandeln Sie das auch immer wieder neu?

Teresa Bücker: Ich muss meine Zeit tatsächlich neu ordnen, weil das noch ungewohnt ist, dass ich mehr in andere Städte reise für Lesungen und Vorträge. Das beeinträchtigt meine soziale Zeit zu Hause mit Familienmitgliedern, mit Partner und Kindern. Aber auch Zeit mit meinen Freund*innen: Wie kann ich sie treffen, wenn ich so viele Abende in anderen Städten bin? Dann kommt die viele Zeit im Zug hinzu, die ja oftmals nicht gut planbar ist. Da ist es schon interessant, wie diese Verzögerung bei Bahnreisen an der eigenen Freizeit zehren, weil man eigentlich Freitagnachmittag zu Hause sein wollte, aber dann doch ein paar Stunden länger im Zug sitzt.

Konstantin Rohé: Für Ihre Überlegungen sind die Begriffe Zeitarmut, Zeitwohlstand, Zeitgerechtigkeit und Zeitkultur zentral. Was bedeuten sie?  

Teresa Bücker: Ich wollte den Blick darauf richten, dass die Zeitstrukturen, in denen wir uns bewegen, nicht naturgegeben sind. Das vergisst man manchmal, denn wir bewegen uns dauernd durch die Zeit. Sie umgibt uns wie die Luft, die wir atmen. Deswegen vergessen viele Menschen, dass uns die Zeit und die Strukturen des Alltags nicht zufällig geschehen, sondern sie das Ergebnis von politischen Entscheidungen und dass sie veränderbar sind.

Deswegen gibt es nicht nur den Begriff der Zeitkultur, sondern auch den Begriff der Zeitpolitik. Der zeigt ganz klar: Mit was wir die Zeit verbringen und für was wir Zeit haben, ist das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die diskutiert und beeinflusst werden können. Das heißt wir können nochmal neu bewerten, wie wir unsere Zeit verbringen und haben da einen großen Gestaltungsspielraum, der aus meiner Sicht viel zu wenig genutzt wird.

Die anderen Begriffe beschreiben Phänomene, die innerhalb unserer Zeitkultur existieren. Die Zeitarmut beschreibt, dass eine Person zu wenig Zeit pro Tag, pro Woche hat, um wirklich die Dinge machen zu können, die nötig sind, oder die sie für ihr eigenes Wohlempfinden brauchen würde. Sie hat ähnlich wie die materielle Armut großen Einfluss auf das Wohlempfinden von Menschen und muss deshalb auch gesondert als eigenes Phänomen betrachtet werden, dass die Lebensqualität senkt. Zeitarmut ist eben kein Luxusproblem, sondern ganz entscheidend für Lebenschancen, für Selbstbestimmung, für das Empfinden von Freiheit. Ähnlich wie das Ziel, einen möglichst guten und ähnlich verteilten materiellen Wohlstand für Menschen zu erreichen, gibt es dann eben auch das Ziel des Zeitwohlstandes. Der ist soziologisch unterschiedlich definiert.

Konstantin Rohé: Welche Definition finden Sie passend?

Eine Definition von Mückenberger umfasst vier Komponenten. Das würde zunächst mal heißen, dass Menschen genügend Zeit für ihre eigenen Bedürfnisse haben – auch jenseits von Erwerbsarbeit, Zeit für sich selbst und die eigenen persönlichen Interessen. Die nächste Komponente umfasst – auch ganz wichtig – Zeit mit anderen verbringen zu können. Haben wir gemeinsame Zeiten, die auch parallel liegen und wir die Möglichkeit haben, beispielsweise die eigenen Familienmitglieder zu sehen? Das wird unter anderem über Schichtarbeit erschwert. Des Weiteren sollte eine möglichst hohe Selbstbestimmung über die Zeit gegeben sein. Das heißt, ich kann auch mitbestimmen und mitgestalten, wann ich was mache. Als vierte Komponente nennt Mückenberger eine möglichst entdichtete Zeit. Das betrifft vor allem die Erwerbsarbeit aber auch Alltagsstrukturen. Die Zeit ist eng vollgetaktet mit Aufgaben, die erledigen werden müssen. Diese Arbeitsverdichtung in vielen Branchen belegen viele Studien. Was tatsächlich wiederum Einfluss auf die Gesundheit hat, wenn dieser Zeitstress auf der Arbeit existiert.

Konstantin Rohé: Inwiefern ist die Frage nach Zeitverteilung aus Genderperspektive wichtig? Warum ist Zeit für equal pay so wichtig?

Teresa Bücker: Es ist gesellschaftspolitisch ganz wichtig auf mehr als Erwerbsarbeit zu gucken. Weil Gesellschaft viel mehr als Erwerbsarbeit ist. Ich wünsche mir hier ein politisches Verständnis auch von den anderen Seiten, beispielsweise von der freien Zeit. Sie ist unter anderem in der allgemeinen Menschenrechtserklärung in Artikel 24 verankert. Freie Zeit ist kein Luxus, sondern auch menschenrechtlich diskutiert worden. Wir müssen davon weg, die Zeiten, die neben der Erwerbsarbeit oder Familienarbeit liegen, als Luxus zu betrachten.

Genderperspektiven ziehen sich eben auch bei der Verteilung von selbstbestimmter Zeit durch die Gesellschaft – ähnlich wie bei ökonomischer Gerechtigkeit. Das umfasst nicht nur Genderperspektiven, auch Klassenperspektiven. Die bestehenden Ungerechtigkeiten, die wir schon in anderen Bereichen identifiziert haben, die bilden sich genauso in der Verteilung von Zeit ab. Das betrifft zuallererst eben auch passend zum Equal Pay Day die Teilhabe oder die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Da haben wir große Geschlechterunterschiede zwischen Frauen und Männern und es sammelt sich eben auch der materielle Wohlstand, die finanzielle Macht viel stärker bei Männern, weil sie mehr Zeit mit der höher bewerteten Zeit – also der Zeit, für die Geld bezahlt wird – verbringen und Frauen dementsprechend weniger. Dabei arbeiten sie genauso viel, oft sogar mehr, aber der Anteil an unbezahlter Zeit ist bei Frauen sehr viel höher. Da finden wir unterschiedliche Grade der Selbstbestimmung wieder. Wie kann ich eigentlich meine Zeit verteilen? Für was setze ich sie ein? Wie stark ist sie vielleicht im Alltag fragmentiert?

An der Stelle lohnt es sich nochmal genauer zu schauen, wie sich denn eigentlich freie Zeit innerhalb von beispielsweise Hetero-Paar-Familien verteilt. Da sehen wir leider sehr große Unterschiede: Männer haben in der Tendenz sehr viel mehr Freizeit, unter anderem am Wochenende. Das heißt, sie haben mehr Zeit für Erholung, für persönliche Interessen und zusammenhängende Auszeiten. Sie haben längere Phasen zusammenhängender Freizeit. Für viele Frauen ist die Freizeit hingegen sehr stark fragmentiert, und sie haben hier und da ein paar Minuten, die sich am Ende zusammenrechnen lassen zu einer guten Summe Freizeit. Aber wenn ich immer nur zehn Minuten an der einen und 15 Minuten an der anderen Stelle habe, dann ist das natürlich keine freie Zeit, die ich wirklich nutzen kann für die Dinge, die ich machen möchte.

Konstantin Rohé: Diese Zerstückelung von kleinen Zeitfenstern fassen Sie in Ihrem Buch unter dem Begriff „Zeitkonfetti“ zusammen.

Teresa Bücker: Genau. Da lohnt es sich wirklich, drauf zu gucken. Einerseits auf individueller Ebene, z.B. wenn ich in einer Partnerschaft lebe: Wie sieht das bei uns eigentlich aus? Wie verteilen wir unsere Zeiten? Ist das gerecht? Ist das so, wie wir das wollen? Aber gesellschaftlich brauchen wir den Blick eben auch ganz klar und da müssen wir was verändern, und aktuell ist politisch einfach nicht genug geplant, um mehr Gerechtigkeit in die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu bekommen.

Konstantin Rohé: Welche Lösungsansätze tragen dazu bei, dies umzusetzen? Einer Ihrer Vorschläge betrifft die Arbeitszeitverkürzung. Warum ist das der richtige Schritt und wie kann Arbeitszeitverkürzung funktionieren?

Teresa Bücker: Eine generelle Arbeitszeitverkürzung ist aus meiner Sicht der große Hebel für die gleichberechtigte Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Wenn wir aktuell in die Erwerbskonstellation von Heteropaaren gucken, dann sehen wir ganz klar, dass das sogenannte modernisierte Ernährermodell überwiegt. Das heißt, der männliche Partner arbeitet typischerweise Vollzeit, die Frau arbeitet in unterschiedlichen Teilzeitkonstellationen. Dann haben wir immer noch einen sehr großen Anteil des Alleinernährermodells, das sind knapp 30 Prozent. Das glaubt man manchmal gar nicht, wenn man sich ein modernes Land vorstellt. Dann haben wir Paare, die doppelte Vollzeit arbeiten, das waren zuletzt etwa 13, 14 Prozent. Ein viel kleinerer Teil der Paare arbeitet in doppelter Teilzeit, was wir ja schon lange eigentlich bewerben als das Modell für eine gleichberechtigte Partnerschaft. Das ist gut vorstellbar, wenn beispielsweise beide Personen 30 Stunden arbeiten, gleichberechtigt zum Erwerbseinkommen beitragen, sich die Familienarbeit teilen können.

An den Erwerbskonstellationen sehen wir aber ganz klar, dass es für Familien nicht möglich ist und dass sowohl doppelte Vollzeit als auch doppelte Teilzeit sehr selten gewählt wird.

Das hat weniger damit zu tun, dass Menschen sich nicht für diese Erwerbsmodelle interessieren. Sondern damit, dass sie im Alltag nicht möglich sind, weil so etwas wie doppelte Vollzeit einfach an Betreuungsstrukturen scheitert. Weder Kitabetreuung noch Nachmittagsbetreuung von Schulkindern ist so gut ausgebaut, dass beide Eltern aus freien Stücken Vollzeit arbeiten könnten. Das heißt, da haben Familien gar nicht die Möglichkeit, das aus eigener Kraft gut umzusetzen.

Dann haben wir natürlich auch die großen Unterschiede in den Löhnen, die gezahlt werden. Man hat einen Gender Pay Gap innerhalb der Partnerschaft. Der legt eher nahe, dass der männliche Partner mehr arbeitet, weil seine Vollzeitarbeit mehr Geld nach Hause bringt. Da ist eine Aufwertung der Frauenberufe ganz entscheidend, also die Reduzierung des Gender Pay Gaps innerhalb von Partnerschaften, um diese Erwerbsmodelle freier wählen zu können.

Wir sehen eben in den Strukturen, dass die fehlende Infrastruktur gerade im Care-Bereich dazu führt, dass insbesondere Frauen überhaupt nicht Vollzeit arbeiten können, weil die Kinder dann eben nicht betreut wären oder die Angehörigen nicht gepflegt werden und dann auch noch zu Hause sehr viel Hausarbeit übrigbleibt, die irgendwann gemacht werden muss und die in einer Arbeitsbelastung von etwa 80 Stunden die Woche pro Familie oft gar keinen Raum mehr findet. Die muss eigentlich in den Arbeitsstrukturen, die wir haben, auch mitgedacht werden. Weil wir ganz weit davon entfernt sind und das vielleicht ja auch nicht wollen, dass zu jeder Familie auch noch Hausangestellte gehören, die putzen, kochen und einkaufen.

Konstantin Rohé: Um Gendergerechtigkeit und Equal Pay zu erreichen, müssen viele Gewerke ineinander fassen. Wenn wir uns konkret den Ablauf einer Familie anschauen, was sind da entscheidende Parameter für die Zeitkalkulation und entsprechend für eine gleichberechtigte Zeitkultur? Was muss im Alltag zusammenpassen und welche Infrastruktur muss grundsätzlich gegeben sein?

Teresa Bücker: Wir müssen gar nicht so groß ansetzen wie bei der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung, die ja ein großer Kampf werden wird. Aber die lokale Zeitpolitik, die kann schon ganz viel bewegen, gerade für Familien. Ein sehr plastisches Beispiel sind Begleitwege, die Eltern jeden Tag einplanen müssen, zur Kita, zur Schule. Da sind viele Eltern in der Situation, dass der Kitaplatz sehr, sehr weit weg ist. Mir geht das in Berlin auch so. Wenn ich mein Kind morgens zur Kita und das andere zur Schule bringe und dann zurück ins Homeoffice fahre, was ja eigentlich Zeitersparnis sein könnte, war ich anderthalb Stunden unterwegs. Das Gleiche habe ich am Nachmittag nochmal. Das sind drei Stunden pro Tag, die ich allein für diese Begleitwege auf mich nehme. Wenn da Städte und Kommunen anfangen würden, auch Kitaplätze wohnortnah zuzuteilen, was ja im Bereich der Grundschulen meistens möglich ist, dann hätten Familien eine große Zeitersparnis. Das betrifft alles, was an kurzen Wegen gestaltet werden kann. Alle die Einrichtungen, die ich im Alltag brauche, seien es Arztpraxen oder auch Supermärkte, die sollten wirklich gut erreichbar sein, auch ohne Auto. Deswegen ist in der Mobilität beispielsweise das Stichwort die 15-Minuten-Stadt entstanden, was genau das beschreibt. Das entlastet insbesondere Familien im Alltag sehr stark und gibt ihnen mehr Zeit, die auch für mehr Erwerbsarbeit und mehr Lohngleichheit verwendet werden könnte und für mehr Erholung und mehr Familienzeit, was ja tolle Ziele wären. Also da können Städte ganz konkret anfangen und sehr gut Dinge voranbringen.

Konstantin Rohé: Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Die Entscheidung, dass meine Partnerin 36 Wochenstunden arbeitet und ich 30, war nicht das Problem. Es im Alltag zu leben, ist eine Herausforderung. Überraschungen gibt es auch immer wieder bei der Elternzeit. Väter, die mehr als die drei nicht übertragbaren Elterngeldmonate nehmen, sind immer noch die Ausnahme.

Teresa Bücker: Ja, das haben wir auch erlebt. Als mein Partner beim zweiten Kind eine verlängerte Elternzeit ankündigte, ging sein Unternehmen von drei Monaten aus und war sehr überrascht, als er vierzehn Monte beantragte. Er war der erste in seinem Unternehmen. Inzwischen gibt es immer mehr Väter, die längere Elternzeiten nehmen, was die Wichtigkeit von Role Models verdeutlicht.

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