Podcats – der Podcast zu equal pay Folge 21 – Ruth Müntinga – Transkript

Wir wollen in unserem Podcast darüber sprechen, was passieren muss, damit in Deutschland Frauen und Männer für gleiche und gleichwertige Arbeit endlich auch gleich bezahlt werden.
Wie stellen wir die Weichen auf gerechte Bezahlung in der Arbeitswelt von morgen? Wie schaffen kürzere Arbeitstage gleiche Karrierechancen für Frauen und Männern? Was erfahren wir aus den Drehbüchern für Filme und Serien über unsere Vorstellungen von der Arbeit? Und wie wird IT inklusiv? Das alles wollen und noch viel mehr wir mit diesem Podcast herausfinden.
Wir freuen uns, wenn Ihr Mal reinhört! Garantiert ohne Kater danach!

Alle Folgen hier.

Natascha Heinisch

In meinem Bekanntenkreis gibt es eine kleine Legende. Ein kleiner Junge besucht regelmäßig mit seinem Fahrrad eine ältere Dame in seiner Nachbarschaft, um ihr Sachen vorbeizubringen. Und dieses Fahrrad sorgt bei den Nachbarn der Oma dann immer für Unmut, weil es im Flur liegen bleibt, wenn der Junge auf Besuch ist. Und dann wird immer und immer und immer wieder über dieses Fahrrad gemotzt, weil es da im Weg herum steht – genau da im Flur, wo man doch so gerne eine Pflanze hinstellen würde. Und für die Pflanze muss schließlich Platz sein. Die ältere Dame hat das dann zum Anlass genommen, diese dann irgendwann in den Flur gestellte Pflanze der Nachbarn täglich mit einer ganz kleinen Menge Orangensaft zu beerdigen. Immer ein Schlückchen und dann noch mal ein Schlückchen und irgendwann war die Pflanze dann hin. Das hat ihr dann natürlich wirklich, wirklich leidgetan, dass diese arme Pflanze einfach so eingegangen ist. Das ist ja wirklich, wirklich doof.

Abseits von diesen eher lustigen Vergeltungsmaßnahmen rüstiger Rentnerinnen, ist es im echten Leben aber leider auch oft so, dass Menschen – und in unserem Fall sprechen wir heute speziell über Frauen – immer wieder kleine, aber auch große Schlucke von schädlichen Gemeinheiten zum Beispiel oder dummen Sprüchen abbekommen. Und nicht nur das. Und nicht nur darüber spreche ich heute mit Dr. Ruth Müntinga. Hallo, liebe Ruth. Schön, dass du da bist.

Ruth Müntinga:

Ja, Hallo, Natascha. Ich freue mich.

Natascha Heinisch:

Ich würde erst mal anfangen mit dem Teil: Wer bist du eigentlich? Was machst du? Du hast ja verschiedene Fokusthemen. Erzähl doch einfach mal, was ist das, was man über dich auf jeden Fall wissen sollte?

Ruth Müntinga:

Oha. Ich bin Unternehmerin zum jetzigen Zeitpunkt, mittlerweile Vollzeitunternehmerin. Der Schritt hat mich viel Mut gekostet, muss ich ehrlicherweise zugeben und deswegen ist das auch noch gar nicht so lange. Wobei ich mein Unternehmen jetzt schon seit 2021 habe, 2020 sogar. Wir haben in der Pandemie gegründet und deswegen habe ich damals noch eine Forschungsstelle an der Uni Bremen angenommen. Und insofern hatte ich jetzt ganz viele Jahre über zwei Standbeine, einmal die Forschung und zum anderen aber eben auch mein Unternehmen, motus5.

Natascha Heinisch:

Ich würde gerne biografisch ein bisschen anfangen, weil ich das in einer Sendung über dich gesehen habe und sehr, sehr spannend fand: dein Werdegang hin zum Studium. Die kleine Ruth, wie sie sich auf den Weg gemacht hat, bis hin zum Studium, bis hin zum Doktor und wie das alles so sich entwickelt hat und auch, was ich ganz, ganz toll fand, dass du dein Studium durch einen Würfelwurf entschieden hast.

Ruth Müntinga:

Ja, ich fange einfach mal vorne an. Es ist vielleicht insofern immer noch mal ganz interessant zu wissen, dass ich tatsächlich nur eine einprozentige Chance auf den Doktortitel hatte, denn ich komme aus einer sehr einkommensschwachen, bildungsfernen Familie. Mein Vater hat mal irgendeinen Schulabschluss. Meine Mutter zwar schon, aber so was im mittleren Bereich und entsprechend Bildungsfern war halt auch meine Kindheit und Jugend. Das war relativ schwierig auch für mich. Es war eine sehr prekäre Zeit, eine sehr prekäre Kindheit. Und ich finde So ein bisschen hat mich das dreigliedrige Schulsystem damals gerettet, weil ich auf dem Gymnasium war, das fiel mir leicht, Lernen viel mir leicht, Bildung viel mir leicht. Und auf dem Gymnasium sollten alle anderen Kinder unbedingt studieren, was ich ganz witzig fand, weil es gab einige Jugendliche, die unbedingt eine Ausbildung machen wollten und die durften nicht. Und ich wollte studieren und mein Vater war da ziemlich dagegen. Meine Mutter fand das schon in Ordnung, aber so richtig die Unterstützung dahin, die fehlte, ganz klar. Und ich finde das schon schwierig, weil ich eben auch viel zum Thema Ungleichheit arbeite und forsche heute. Und gerade die soziale Ungleichheit ist etwas, was so viel unterschätzt wird, wie ich finde.

Ich beschäftige mich damit auch gerade noch mal ganz besonders, da ich tatsächlich meine Ursprungsfamilie momentan vorwiegend verliere, denn zum Beispiel ist meine Mutter sehr sauer darauf, dass ich öffentlich darüber spreche. Mir ist das aber wichtig, dass ich das tue, denn ich möchte endlich mal aus diesem Tabu raus. Ich finde, dieser Begriff „bildungsfern“ beispielsweise, der wird oft negativ interpretiert, so auch von meiner Familie. Ich finde das jetzt aber erst mal nicht negativ. Ich finde, das ist einfach nur eine Beschreibung: Diese Menschen haben kein Abitur oder kein Studium oder was auch immer. Das heißt ja noch lange nicht, dass diese Menschen dumm sind. Überhaupt nicht. Ich kenne sehr viele sehr intelligente Menschen ohne akademischen Abschluss.

Natascha Heinisch:

Und wahrscheinlich auch sehr viele dumme Akademiker umgekehrt.

Ruth Müntinga:

Ja bitte. Auch das geht genau. Also ein akademischer Abschluss schützt nicht vor Doofheit. Genau. Und deswegen ist mir das so wichtig, da auch drüber zu sprechen. Und ich möchte das auch erzählen, weil ich hoffe, anderen Menschen damit Mut machen zu können Ich hatte solche Vorbilder lange nicht. Ich bin ´82 geboren, also ich bin jetzt 42 Jahre alt. Und als ich angefangen habe zu studieren, 2001, da hatten wir noch die D-Mark und es gab noch kein wirkliches Internet. Das heißt, Google ist 2001 an den Markt gegangen, aber es war jetzt noch nicht so, dass man einfach mal googeln könnte, wie lief das denn? Welche Fächer studiere ich? Oder, oder. Also sich diese Informationen anzuschaffen, ging eigentlich nur über Netzwerke und das hatte ich nicht, schlechtweg. Und das ist ein echtes Thema und deswegen habe ich gewürfelt. Ja, das war einer der Gründe, weil ich echt völlig überfordert war. Man hat mir irgendwie so ein dickes Buch in die Hand gedrückt, wo alle Studiengänge, die es gab, drin standen.

Natascha Heinisch:
War das dieses grüne zufällig?

Ruth Müntinga:
Weiß ich nicht mehr, in welcher Farbe hatte, aber das hatte so ein bisschen was von einem Vorlesungsverzeichnis damals. Genau, und dann bin ich dieses Buch halt durch und habe überlegt: Okay, NC, das kann ich alles knicken, Abitur mit 3,3. Was machst du? Und ich hatte so wie Leistung und habe gedacht: Ja gut, okay, dann irgendwas mit Soziologie, irgendwas mit Politik, das hört sich so an, als könnte das passen. Ich hatte nicht so richtig eine Idee, was Soziologie ist. Es war mir auch ehrlicherweise egal, es gab kein NC. Und dann wusste ich aber nicht, an Und dann habe ich gewürfelt. Ich habe gedacht: Okay, es muss mindestens 200 Kilometer vom Heimatort entfernt sein, damit ich eine gewisse Distanz habe, wirklich auch mein eigenes Ding machen zu können, und hatte mir dann drei Städte rausgesucht, die auf den Zettel geschrieben und gezogen. Und so ist es Frankfurt am Main geworden.

Natascha Heinisch:

Dann würde ich gerne, weil du es vorhin schon genannt hattest, motus5, dein Unternehmen. Erst mal den Namen vielleicht: ich habe schon gedacht mit Latein oder „motion“ oder irgendwas mit Bewegung vielleicht.

Ruth Müntinga:

Das ist genau das. Im Englischen fällt es halt leichter auf, im Deutschen vielleicht noch Motor.

Natascha Heinisch:

Stimmt, ja.

Ruth Müntinga:

Genau, das kommt halt auch aus diesem Wortstamm und wir haben uns dafür entschieden, weil das halt auch so ein bisschen zu uns passt. Ich bin ja nicht alleine. Ich habe ja eine Mitgründerin, Doris Heitkamp-König. Wir haben zusammen gegründet und wir haben halt lange überlegt, wie nennen wir unser Unternehmen und irgendwie so was wie unseren Namen einfach draufzusetzen, fand ich irgendwie doof. Und dann haben wir überlegt, was ist das denn, was uns antreibt? Und das ist einmal die Veränderung, aber eben vor allen Dingen die nachhaltige Veränderung und diese zugunsten von Gleichstellung aller Menschen. Und dafür haben wir dann überlegt, braucht es einen Motor. Und so sind wir so ein bisschen in die Semantik eingestiegen, haben uns ganz viele Gedanken dazu gemacht und sind schnell auf den Begriff motus gekommen, haben es eine Zeit lang sacken lassen und es passt irgendwie zu uns auch in der Hinsicht, als dass es doch sehr technisch klingt. Wir sind beide sehr verkopft, wir sind beide sehr klar und wir haben auch eine Überzeugung, dass Veränderung dann für uns zumindest auch und auch für unsere Kundschaft leichter funktioniert, wenn man versteht, wie etwas denn eigentlich funktioniert.

Denn die größte Herausforderung bei Veränderungen ist nicht das Vornehmen, sondern das Dranbleiben. Deswegen heißen wir dann auch 5 – so komme ich auf 5 –, denn wir sind eingestiegen in unsere Gründungsidee mit der Frage: Warum fällt Gleichstellung so schwer und warum fällt Veränderung so schwer? Warum flutscht das nicht? Ich habe die gläserne Decke ständig am eigenen Leib erfahren und auch meine Kolleginnen, alle und immer so dieses „Aber im Gesetz steht es doch drin!“. Mit dieser Frage bin ich auf Doris gestoßen, die sich gefragt hat: Warum fällt Veränderung so schwer? Denn die war Jahrzehnte bei Daimler, hier in Bremen, beim größten Berg der Welt damals und hat unter anderem Change-Prozesse begleitet und teilweise wirklich für große Summen. Und alle wollten, das ganze Werk stand dahinter, alle wollten diese Veränderung, diesen Change-Prozess. Trotzdem ist am Ende nur ein Bruchteil umgesetzt worden. Und das ist dieselbe Frage, weil wenn ich ja schon alles tue, warum funktioniert es dann nicht? Und so sind wir eingestiegen und haben ein Konzept entwickelt, das in fünf Phasen Veränderung nachhaltig möglich macht. So habe ich jetzt eine lange Herleitung, aber vielleicht ergibt das auch noch mal ein bisschen Sinn, zu verstehen, warum ich auch motus5 gegründet habe, denn ich war lange in der Politik, ich war lange in der Wissenschaft, das waren so für mich die Wege, wo ich gedacht habe, da könnte ich was bewegen, wirklich was zu verändern und es war extrem desillusionierend. Und als Unternehmerin habe ich das Gefühl, kann ich irgendwie mehr Menschen auch erreichen, ich kann praktischer arbeiten, ich kann auch viel mehr für mich erreichen, ehrlicherweise. Also mir geht es heute sehr viel besser, als zum Beispiel in der Wissenschaft oder sonst wo, weil ich einfach auch keine gläserne Decke direkt mehr im Unternehmen über mir habe, keinen Menschen, der mir sagt: Nein, das kannst du aber nicht.

Natascha Heinisch:

Wie kann ich mir denn jetzt so die ganz praktische Arbeit einmal mit Unternehmen und mit individuellen Frauen vorstellen, wie ihr das mit motus5 macht?

Ruth Müntinga:

Ganz praktisch. Wir haben im Prinzip fünf verschiedene Säulen in unserem Angebot. Wir bieten Vorträge an, wir bieten Kurse an, wir bieten Impulse an, Organisationsberatung und der Kern unseres Geschäfts ist im Prinzip das Intensivprogramm. Das Intensivprogramm ist wirklich diese Abfolge von diesen fünf Phasen, die aneinander aufbauen. Man kann auch nicht irgendwas skippen. Die angefangen mit einer Standortbestimmung und weiter fortgehen über eine Zielgestaltung, eine Planausgestaltung, eine Maßnahmengestaltung und dann eben eine Trainingsphase. Und das ist so der Kern und alle anderen Produkte leiten sich so ein Stück weit daraus ab. Wir sind angetreten mit dem Intensivprogramm auch eigentlich mit dem Plan, das vorwiegend für Privatkundinnen anzubieten, weil wir eben auch Frauen darin unterstützen wollten, wirklich nachhaltig in die Veränderung zu kommen, die es braucht, die gläserne Decke zu durchbrechen. Aber wie ich eben schon gesagt habe, wir haben 2020 gegründet, im August 2020 den Notarvertrag unterschrieben, weil wir dachten, nach dem ersten Lockdown, die Pandemie sei vorbei. Das dachten ja ganz viele.

Natascha Heinisch:

Ja, ja, ja.

Ruth Müntinga:

Genau. Und dann kam eben alles anders, als wir dachten. Und unser Konzept, unser Intensivprogramm hat einen sehr hohen Präsenzanteil, weil wenn wir über Veränderung sprechen, müssen wir alle Wahrnehmungskanäle auch ein Stück weit mit abholen. Das ist Teil dessen. Also wenn du über die praktische Seite unserer Arbeit was wissen möchtest, es macht einen Riesenunterschied, ob ich digital mit jemandem in den Kontakt trete oder eben in Präsenz, ob wir im selben Raum sind, wie ich arbeite, wie ich haptisch arbeite, welche Techniken ich dann anwenden kann und so weiter. Und deswegen ist das Intensivprogramm eigentlich wirklich für ein dreitägiges Präsenzseminar mit Vorbereitung und Trainingsphase hintendran eben eigentlich entwickelt worden und das hat halt nicht funktioniert. Und so haben wir uns daraus eben unterschiedliche andere Produkte abgeleitet. Das Intensivprogramm wenden wir heute vorwiegend zum Beispiel in Mentoring-Programmen an. Das heißt, ein Unternehmen sagt: Hier, wir haben ein Mentoring-Programm für High Potentials für Frauen, damit wir mehr weibliche Führungskräfte bekommen. Und da brauchen wir ein Rahmenprogramm. Das ist absolut sinnvoll, weil viele Mentoring-Programme scheitern, weil es kein Rahmenprogramm gibt. Da sagt man: Wir haben jetzt ein Tandem, Mentee, Mentorin, die müssen jetzt mal alleine klarkommen für ein Jahr.

Da wird selten was draus. Wenn du dann aber ein Rahmenprogramm schaffst, was zum Beispiel auch in Form von Seminaren, eine ideelle Weiterbildung und Co. besteht, dann hat das ziemlich viel Potenzial. Und das ist was, was wir mit dem Intensivprogramm machen. Genau, und das ist so das eine. Die anderen Produkte, wie gesagt, leiten sich daraus ab. Organisationsberatung auch interessanterweise, denn da gucken wir, dass wir zum Beispiel das Team, das die Organisationsentwicklung macht, mit dem wir zusammenarbeiten, zum Beispiel, eine Meldestelle für sexualisierte Gewalt einzurichten nach dem Whistleblower-Gesetz und dem AGG, dass wir die mit diesen Methoden begleiten. Denn auch da hast du häufig dieses Problem: Ein Unternehmen weiß, sie müssen das jetzt machen. Wir haben seit dem 01.07.23, glaube ich, das Hinweisgeberschutzgesetz. Und Unternehmen müssen eine solche Meldestelle einrichten, auch zum Thema sexuelle Diskriminierung. Dann machen sie das, dann haben sie meistens so was wie den Personalchef, der ist dann die Meldestelle auch nicht gegendert bewusst und dann heißt es: Ja, das ist jetzt erledigt. Und das funktioniert halt nicht. Also welche Mitarbeiterin, die gerade von ihrem Vorgesetzten oder oder belästigt wurde, geht dann zum Personalchef und hofft da drauf, dass sie unter dem Schutz des Hinweisgeberschutzgesetzes steht.

Und dann gehört da natürlich noch ganz viel anderes drum herum: Eine Information, eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden und Co. Und das alles auch über einen längeren Zeitraum zu gestalten, braucht Durchhaltevermögen. Und deswegen setzen wir auch da wieder unsere sehr praktischen, wissenschaftlich basierten Methoden an und durchlaufen diesen Prozess.

Natascha Heinisch:

Ich habe gesehen, du bist Expertin für dumme Sprüche, weil du auch im Bereich Schlagfertigkeitstraining, sage ich jetzt mal, ganz viel machst. Ich fand diesen Begriff ganz, ganz, ganz toll. Ich will auch gar nicht viel vorwegnehmen. Erzähl doch du lieber mal, was machst du im Bereich Schlagfertigkeit, im Bereich Mikroaggressionen? Wollte ich dann direkt das nächste Thema aufmachen, aber genau, wir fangen erst mal mit den dummen Sprüchen.

Ruth Müntinga:

Das ist dasselbe. Also dumme Sprüche sind ein Teil von Mikroaggressionen und eine Ausprägung davon. Es gibt noch viel mehr, das kann ich gleich gerne mal erklären, aber dumme Sprüche ist halt etwas, womit viele am ehesten was anfangen können. Mikroaggressionen an sich ist ein Begriff, der eine sehr große Bandbreite von Diskriminierung abdeckt und wir häufig als eine Art Gefühl definieren. Also so im Sinne, ich sitze in einem Meeting und ich fühle mich unwohl und ich weiß überhaupt nicht, warum. Und eben auch dumme Sprüche. Oft habe ich auch gedacht: Das ist doch nicht so schlimm. Das gehört halt vielleicht einfach so. Oder ich war so perplex, dass mir nichts mehr dazu einfiel. Und ein solches Beispiel, das mal zu veranschaulichen, war, als ich als Parlamentsreferentin auf den letzten Drücker zu einer Diputationsvorbesprechung gekommen bin. Alle Abgeordneten, alle Senatsmitarbeitende und, und, und waren schon da. Und der Abgeordnete, der die Sitzung leiten sollte, begrüßt mich mit den Worten: „Ach Ruth, Mensch, du siehst heute aber ja wieder lecker aus!“ Ja, genau. Und ich stand einfach nur da in meinem Kostüm, mit meinen Aktenordnern und ich war so: Hä? Was? Hat er das jetzt wirklich gesagt? Und ich stehe völlig perplex da vor versammelter Mannschaft, wie gesagt, und dann sagt der Abgeordnete noch: „Mensch Ruth, wenn du nicht verheiratet wärst, dann würde ich dich jetzt zum Essen einladen.“

Natascha Heinisch

Wow.

Ruth Müntinga

Genau. Und ich wusste überhaupt nicht, was das Ich wusste überhaupt nicht, was das ist, was das bedeutet. So, wie benennst du das jetzt? Wenn du jetzt sagst: Ja, das ist doch Diskriminierung, dann sagt jemand: Ja, jetzt komm, der hat dich nicht angefasst, der hat dich nicht vergewaltigt, ja, jetzt stelle ich mal nicht so an. Es ist aber ein dummer Spruch, ein richtig dummer Spruch, und es ist vor allen Dingen eine Mikroaggression. Mikroaggression ist ein Begriff, der 1970 zum ersten Mal von Chester M. Pierce, einem Forscher an der Harvard University, verwendet wurde, die Bandbreite von Diskriminierung sichtbar zu machen. Er hat geforscht zum Thema Rassismus in den USA. Die Rassengesetze waren abgeschafft und trotzdem konnte er beobachten in seiner Forschung, dass der Großteil der schwarzen Bevölkerungen sich weiterhin diskriminiert gefühlt hat und eben nicht mehr so krass wie zum Beispiel über die strukturelle Diskriminierung, dass man nur hinten im Bus sitzen durfte. Das ist ja der Klassiker der Rassengesetze. Das war abgeschafft, das gab es nicht mehr, aber eben, es gab noch ganz viele Blicke, dumme Sprüche, vermeintliche Komplimente und Co. Und auch gerade in der Werbung ganz viele subtile Botschaften, die dieser Forscher ausgewertet hat und zu dem Schluss gekommen ist, die Bandbreite von Diskriminierung ist signifikant größer als die strukturelle Ebene alleine. Die strukturelle Ebene in der Soziologie ist die Makroebene der Gesellschaft, die individuelle Ebene der Gesellschaft ist die Mikroebene.

Und deswegen hat er diesen Begriff geprägt, weil die Diskriminierung vorwiegend auf der individuellen Ebene geschieht, nämlich zwischenmenschlich. Und erst in den letzten 10, 15 Jahren bekommt der Begriff eine neue Renaissance. Wie gesagt, auch erst mal wieder in der Rassismusforschung und mittlerweile auch massiv in der Sexismusforschung und auch mittlerweile immer mehr zu allen anderen Dimensionen der Charta der Vielfalt, also auch zu Alter, zu sexueller Identität, sozialer Herkunft, nationaler Herkunft, ethnische Herkunft, was auch immer, religiöse Zugehörigkeit. Das sind alles so Faktoren, wozu ja jeder Mensch diskriminiert werden kann, auch intersektional. Und das alles kann dieser Begriff im Prinzip abdecken. Beispiel: Wir sind im Krankenhaus und, keine Ahnung, Angehöriger ist verletzt im Krankenhaus und es kommt eine Frau im weißen Kittel an und ich nehme an, diese Frau ist die Krankenschwester, aber sie ist die Ärztin. Ich nehme es einfach an, ohne dass ich mir darüber Gedanken mache, weil ich es gewohnt bin, dass die Frauen im Krankenhaus die Schwestern sind. „Schwestern“ sagen wir ja in dem Fall auch nicht mehr. Ich benutze dieses Wording aber trotzdem, weil eben genau das ja die Diskriminierung auch dahinter ist. Und gerade im Bereich Sexismus ist es unglaublich wichtig, eben weil vieles von diesen Sachen Situationen sind, wo wir eben dastehen und überhaupt nicht wissen: Wie sollen wir damit jetzt umgehen? Was ist das hier überhaupt? Und irre ich mich. Wir zweifeln ja dann ständig auch an uns selbst: Bin ich zu empfindlich? Bin ich zu sensibel? Ach, der hat das nur nett gemeint. Das war doch ein Kompliment, mal bei dem Beispiel mit dem Abgeordneten zu bleiben. Na ja, ich bin ja auch attraktiv. Aber das sind ja alles so eine Sachen, die trotzdem was bei mir machen. Die machen was in mir drin und die machen auf eine lange Zeit gesehen ziemlich große Schäden, verdammt große Schäden. Und zwar nicht nur für mich, sondern für die gesamte Gesellschaft, für Unternehmen, für jegliche Formen von Organisation. Und das ist ein extremes Problem, wenn wir an Gleichstellung ran wollen.

Natascha Heinisch:

Ja, danke, dass du den Begriff noch mal so gut erklärt hast, weil bei Mikroaggression könnte man ja denken, „mikro“ ist was Kleines, aber das ist ja so eine große Bandbreite von es ist was, was für die Person, die es empfängt, auch dann nicht klein ist, aber jemand macht was unterbewusst sogar, kann ja auch sein, vielleicht auch ohne irgendeinen tatsächlich bösen Willen, aber auch das ist eine Mikroaggression und es geht aber auch hin bis zu so einem sehr offensichtlich krassen Spruch.

Ruth Müntinga

Nein, du kannst das sogar noch breiter machen. Du kannst wirklich auch den täglichen Übergriff unter die Mikroaggression packen, weil auch das etwas ist, was zwischenmenschlich ist. Also wenn du massiv angefasst wirst, überfallen wirst oder, oder, dann kannst du das auch mit unter diesem Begriff subsumieren. Aber der Punkt ist, dafür haben wir Begriffe, schon seit sehr langer Zeit. Wenn wir jetzt aber in die Forschung gucken und dann den Begriff noch mal anschauen – und das ist ja das, was ich auch in den letzten drei Jahren gemacht habe –, dann hilft der Begriff, wirklich jede Form von Diskriminierung sichtbar zu machen, mit einem methodischen Instrument. Und das ist wiederum ein Vorteil in der Forschung. Wenn wir jetzt über das alltägliche Leben sprechen, dann liegt schon der Fokus häufiger auf der Mikroentwertung oder Mikrobeleidigung, nicht so sehr auf den Mikroangriff. Das ist dann noch mal die drei Glieder dieses Begriffs, die du unterteilen kannst. Der Mikroangriff ist schlichtweg etwas, wofür wir schon sehr, sehr lange Begriffe haben. Der Übergriff, die Vergewaltigung, was auch immer. Das sind alles Begriffe, die wir haben. Und da brauchen wir diesen Begriff nicht unbedingt, das sichtbarer zu machen. Und du hast vorhin nach Schlagfertigkeit gefragt: Mir geht es tatsächlich darum, auch Menschen zu wappnen für solche Situationen. Ja, wie gehst du denn dann damit um, wenn dein Vorgesetzter zu dir sagt: Mensch, du siehst aber lecker aus?

Natascha Heinisch:

Was würdest du jetzt, was würde die Ruth von heute diesem Vorgesetzten sagen, wenn er das noch mal sagen würde?

Ruth Müntinga:

Ich habe in den letzten Jahren einen Joker entwickelt für solche Situationen tatsächlich und da möchte ich auch gerne ganz kurz eine Geschichte zu erzählen. Denn dieser Joker hat fünf Dimensionen, was praktisch ist, weil wir ja motus5 heißen. Genau. Es ist aber tatsächlich keine Absicht, sondern sie sind mir einfach nach und nach so eingefallen, diese fünf Dimensionen. Also das Problem bei so einer Situation ist ja, dass du erst mal unter Schock stehst. Du bist von deinem Nervensystem, von deiner neurologischen Reaktion erst mal in der Panikzone. Du bist nicht in deiner Kernzone, du bist nicht in deiner Wachstumszone, sondern in der Panikzone. Und in der Panikzone wird unser Urteil des Gehirns angefeuert und darin enthalten sind im Prinzip nur drei wesentliche Reaktionen und diesen fight, flight und freeze. So, und jetzt tendieren wir Frauen vorwiegend dazu, einzufrieren. Das ist so etwas, was wir häufig antrainiert bekommen aufgrund unseres Geschlechts Wir werden ja aufgrund unseres Geschlechts erzogen. Wir kriegen eine andere Farbe angezogen, wir kriegen andere Spielzeuge geschenkt und wir kriegen ein anderes Verhalten vorgelebt. Und Einfrieren ist ein ganz klassisches Beispiel für eben solch eine Situation. Das muss nicht, ich rede hier von Häufigkeiten.

Mir passiert das am häufigsten. Ich friere am meisten ein, anstatt dass ich in den Angriff gehe oder in die Flucht. Und wenn du im Freeze-Modus bist, dann bist du nicht schlagfertig. Dann kannst du dir keine genialen Sachen überlegen. Das ist schlichtweg so. Das heißt, ich mache erst mal überhaupt ein Bewusstsein dafür, was das denn bedeutet. Was ist das für eine Situation? Dann ist mir wichtig, dass man versteht, dass es wirklich Freeze ist und dass du es dir auch nicht vorwerfen musst –, dass dir da keine besonders intellektuell großartig witzige Antwort eingefallen ist, weil es ja nicht anders geht. Es ist biologisch nicht möglich. Und das ist ganz wichtig, das ist der erste Punkt. Und wenn man das dann verstanden hat, dann können wir trocken, also in der Kernzone, trainieren und üben. Man kann ja rückblickend schauen, welche von diesen Situationen sind Situationen, die häufiger passieren, und auf diese Situation würde ich fokussieren. Sprüche von meinem Vorgesetzten sind etwas, worauf ich mich immer vorbereiten konnte, denn ich hatte bislang immer Vorgesetzte, die mir dumme Sprüche gedrückt haben. Das heißt, ich kann mir exemplarisch ein, zwei, drei dieser Situation mal raussuchen, mir noch mal ins Gedächtnis rufen, vorstellen. Wie war das denn?

Und dann kann ich tatsächlich gucken, auch über den Körper hinweg, auch da wieder, wir kommen wieder über verschiedene diese Wahrnehmungskanäle, zu schauen: Was kann ich für mich tun, in dieser Situation so zu reagieren, wie es für mich passt? Auch das ist wieder etwas, was mir ganz wichtig ist. Wenn wir jetzt in Trainings sind, ich mache das viel in Unternehmen mit Frauen, die dann eben genau solche Stories erleben, und dass wir dann auch erst mal drauf gucken: Okay, was passt zu dir? Weil wenn ich dir jetzt was vorgebe, was überhaupt nicht zu deinem Typus passt, dann wirst du es nicht machen. Und zu vielen Frauen passt es eher in eine fragende Richtung zu gehen und weniger in die Konfrontative. Also natürlich könnte ich jetzt bei dem Beispiel „Du siehst aber lecker aus“ sagen: „Ey, was bist denn du für ein Arsch?“ und es ist nichts, was zu mir passt. Es ist nicht mein Typ, es ist nicht meine Art zu reagieren. Plus, es erzeugt vielleicht auch Ergebnisse, die ich nicht haben möchte, weil es erzeugt eine Konfrontation, eine Eskalation. Und das will ich vielleicht auch gar nicht aushalten, gerade nicht im Berufskontext. Deswegen empfehle ich oft, am Anfang zu trainieren, einen Joker.

Und dieser Joker lautet: „Was genau meinst du damit?“ Und der Joker funktioniert auch erst, wenn man ihn trainiert. Das heißt, auch da wieder erst mal überhaupt üben, sich Situationen vorstellen. Wie funktioniert der? Oder wandle ich den vielleicht noch mal ab in der Sprache, dass er besser zu mir passt und so weiter. Aber für Mikroaggressionen am Anfang nur eine allgemeine Antwort parat zu haben, ist sinnvoll, denn – und deswegen nenne ich ihn Joker – er passt ja auf so ziemlich jede verbale Mikroaggression.

Natascha Heinisch:

Richtig, ja.

Ruth Müntinga:

Ja. Und ich gebe ein Beispiel, wie gut der funktioniert. An meiner letzten Stelle kam der Vorgesetzte in den Raum rein und sagte: Mensch, Ruth, was ist denn mit dir los? Du siehst total erschöpft aus. Und ich so: Ja, ich habe jetzt ein krasses Seminar gegeben. Ich bin total KO gerade. Und dann sagt er: Ja, Ruth, das ist klar. Das sind die Hormone. Ich meinen Joker rausgeholt und gesagt: Was genau meinst du damit? Erstens, ich bleibe schlagfertig und freundlich. Ich bin ja nicht zickig. Mir kann man dann nicht vorwerfen: Boah, hier, du bist ja voll gemein und holst ja gleich die Feministenkeule raus oder so was. Das ist auch so was, was ich gerne höre. Sondern ich bin freundlich, ich bin schlagfertig trotzdem, weil es ist ja eine sofortige Reaktion und ich bin eben nicht zickig.

Das zweite, was dieser Joker mir verschafft, ist Zeit. Ich kann also dann überlegen, ich habe den Ball ja zurückgespielt, ich kann mir also kurz die Zeit nehmen, einmal tief durchzuatmen – da sind wir wieder beim Thema Körper – und zu überlegen: Was will ich hier jetzt gerade eigentlich? Es ist ja mein Vorgesetzter. Könnte das Probleme geben? Wenn ich mich jetzt wehre, habe ich nachher Probleme, dass ich nicht befördert werde? Oder, oder, oder. Es gibt ja so viele Konsequenzen, die man durchdenken muss, wenn man auf der Arbeit sich wehren möchte. Und in der Zeit ist dann Dimension drei: Mein Gegenüber muss reagieren, denn der Ball liegt bei ihm. Und in dem Fall hat er das auch wunderbar gemacht. Er hat nämlich dann gesagt: „Du, das ist doch ganz klar. Du hast jetzt sechs Stunden Seminar gegeben: Dein Adrenalin war die gesamte Zeit mega oben und jetzt ist dein Adrenalin total in den Keller gefallen. Und damit kommen wir zu Dimension Nummer vier: Ich hatte ein Vorurteil. Ich hatte diesem Vorgesetzten unterstellt, er meint meine Periode. Und das ist nämlich der Trick: Wir alle haben Vorurteile, wir kommen aus der Nummer nicht raus. Und ich habe diesem Mann, weil er ein Mann ist, genau das unterstellt.

Aber ich konnte es auflösen. Ich konnte dann, weil wir diesen Joker hatten, in ein aufklärendes Gespräch gehen und sagen: „Mensch du, das ist bei mir so und so rübergekommen. Ich glaube, bei Frauen kommt es oft so an, als würdest du mit Hormone die Periode meinen. Das ist nicht so richtig cool für mich.“ Und er konnte sagen: „Boah, Scheiße, das habe ich gar nicht gemeint.“ Und damit kommen wir zur fünften Dimension dieses Jokers: Ich bin für mich eingetreten. Und das ist der Kern von Empowerment.

Natascha Heinisch:

Ist das auch eine Möglichkeit für die Frauen, im Nachhinein noch bereits geschehende Situationen noch mal zu verarbeiten? Weil ich habe nämlich in anderen Podcastfolgen schon mehrere unschöne Situationen erzählt, die mir passiert sind, wo ich dachte: Ach, so ein Mist, warum hast du denn nicht das und das und das und das gesagt?! Und jetzt – noch zehn Jahre später! – ärgere ich mich, dass ich das da nicht gemacht habe. Und über den Weg dann, wie du vorhin schon gesagt hast, fand ich auch super wichtig, dass das ganz normal ist, dass ich da gesessen habe in meinem ersten, also nicht „das“ erste, aber eines meiner ersten Bewerbungsgesprächen mit 25, und dann habe ich da gesessen und habe das aufgenommen, was mir gesagt wurde und dann das Gespräch weitergeführt, aber bin darauf nicht eingegangen.

Ruth Müntinga:

Genau. Ich hoffe wirklich, dass du es dir verzeihst jetzt mit dem Wissen. Du konntest ja schlichtweg nicht anders, weil wie denn auch? Das ist ja nun wirklich etwas, was vor allem eben Frauen, also Mädchen, nicht trainiert bekommen. Jungs halt schon. Jungs werden ja dazu auch angehalten, ihre Wut auszuleben beispielsweise, Mädchen nicht. Und deswegen kannst du schlichtweg nicht anders. Und das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Und ja, es hat einfach eine riesen Bandbreite. Und je häufiger du übst, diesen Satz anzuwenden, desto leichter wird es dir auch irgendwann fallen, andere Sachen zu sagen. Deswegen empfehle ich dann auch oft: Sag das doch einfach auch mal so im Alltag. Ich habe mir das wirklich angewöhnt, ohne dass es eine Mikroaggression ist, einfach mal zu fragen: Was genau meinst du damit? Einfach nur, es zu üben, damit es Teil meiner Routine wird. Wenn wir über Veränderung sprechen, wenn wir über Gleichstellung und Ungleichstellung sprechen, dann sprechen wir auch immer von Routinen. Die meisten Menschen greifen nur den Begriff „Stereotype“ oder „Vorurteile“ auf und beides sind Unterteile von Routinen. Eine Routine ist ein neuronales Netz in unserem Körper. Auch das finde ich noch mal wichtig, an der Stelle zu erwähnen: Unsere neuronalen Zellen sind über den gesamten Körper verteilt, was ein Punkt ist, weswegen Vorurteile, die ja ein Teil von Routinen sind, kein psychologisches Problem, sondern ein biologisches Problem sind. Und das zeigt, wie wenig wir das auflösen können. Eine Routine ist zum Beispiel auch Autofahren. Vielleicht hast du einen Führerschein und erinnerst dich noch an deine erste Fahrstunde und du weißt noch vielleicht, wie anstrengend das war, alles gleichzeitig zu machen. Kuppeln, schalten, Gas geben, blinken, dann auch noch vielleicht einen Scheibenmischer anmachen, unten noch einen Schulterblick, unten in den Spiegel gucken, wie das alles auf einmal. Und heute denkst du nicht mehr drüber nach. Du fährst automatisch. Und das ist ein Automatismus, genauso wie ein Vorurteil, genauso wie mein Vorurteil dem Vorgesetzten gegenüber, mit Hormonen meint er meine Periode. Und da hilft es halt wirklich, mit so einer offenen Frage reinzugeben, einfach überhaupt erst mal einen Lösungsraum zu schaffen.

Natascha Heinisch:

„Sei doch nicht so empfindlich!“, ist ja auch so ein Klassiker. Gibt es einen „zu empfindlich“? Nein. Nein. Das Ergebnis ist, es ist das, so wie ich das fühle und dann ist das so.

Ruth Müntinga:

Natürlich, und das ist ja der Punkt. Also an der Stelle möchte ich vielleicht gerne noch mal den Begriff Empowerment erklären. Empowerment bedeutet nichts anderes, als dass ich mir selbst die Erlaubnis erteile, ohne jemanden darum zu bitten. Das heißt, ich alleine entscheide, ob das meine Gefühle sind, ob die in Ordnung sind, ob ich das darf, ob ich das will, ob ich das kann. Und niemand sonst. Und das kennen wir gerade bei Mikroaggressionen ganz massiv. Wir haben irgendwas Blödes erlebt und ich komme dann nach Hause, mir ist natürlich nichts eingefallen, ich komme nach und ruf dann meine beste Freundin an und sage: Das und das ist passiert. Das war voll krass, oder …?! Und dann warte ich auf Zustimmung. Und erst wenn die Freundin mir sagt: Ja, boah, eh, das war voll unter aller Kanone!, erst dann fühle ich mich ein kleines bisschen besser, weil ich dann die Erlaubnis bekommen habe mich wirklich scheiße fühlen zu dürfen, weil das, was der Typ gemacht hat – oder die Frau, ist ja egal – also Mikroaggressionen können wir alle ausüben, tatsächlich scheiße war und dass ich ein Recht darauf habe, das Scheiße zu finden. Und das ist halt ganz wichtig und das ist Empowerment tatsächlich.

Natascha Heinisch:

Vielleicht kannst du auch zur … Es gibt ja sicher auch eine sehr große Schnittstelle der Bereich equal pay, Mikroaggressionen, Empowerment – und equal pay ist ja so das Kernthema – vielleicht kannst du dazu noch irgendwie was Zusammenfassendes oder so einen Überblick, einen Überschirm vielleicht über die Schnittstelle geben.

Ruth Müntinga:

Ja, sehr, sehr gerne, weil das ist mir wirklich sehr am Herzen. Also Mikroaggressionen, den Begriff, ich habe es ja schon gesagt, finde ich so wichtig, weil er die Bandbreite von Diskriminierung aufzeigen kann. Also wenn ich jetzt in einem Meeting sitze zum Beispiel und ich habe eine super Idee, mir ist das schon oft passiert: Ich hatte eine Idee, habe mich gemeldet, habe die Idee gesagt, keiner reagiert. Fünf Minuten später wiederholt ein Mann meine Idee und alle applaudieren. Und was sagst du dann? Dann sitzt du da und denkst dir: Hä? Habe ich mich vielleicht nicht klar ausgedrückt? Habe ich irgendwie zu leise gesprochen? Ich fange sofort an, an mir selber zu zweifeln. Und das Beispiel war eine ganz klassische Mikroaggression, eine Mikroentwertung. Man hat mir diese Idee nicht abgenommen. Und da kommen noch andere Faktoren rein, zum Beispiel, dass wir tieferen Stimmen eher zuhören, dass wir Kompetenz eher als männlich betrachten und so weiter und so fort. Aber es ist in dem Moment wirklich vor allen Dingen eine Mikroaggression. Und das Ergebnis dieser Mikroaggression ist: Ich zweifle an mir. Und je mehr ich an mir zweifle, je häufiger ich Mikroaggressionen erlebe, desto mehr zweifle ich an mir. Und deswegen ist es auch so wichtig für Unternehmen beispielsweise. Wenn Unternehmen von Diversität profitieren wollen, was ja so ein gängiger Glaubenssatz heute ist, also nicht nur ein Glaubenssatz, der – das ist ja auch wissenschaftlich bewiesen –, je diverser das Team, je mehr Frauen in Führungspositionen und so weiter, desto besser performt das Unternehmen, desto besser sind die KPIs, desto besser die Umsätze und so weiter und so fort. Das stimmt alles, aber nur wenn die Unternehmenskultur das mitmacht. Wenn jetzt da die Quotenfrau im Management morgens hingeht und schon Bauschmerzen hat, weil gleich kommt wieder ein dummer Spruch vom Vorgesetzten, vom CEO, von wem auch immer oder vom Kollegen. Es muss ja auch nicht immer hierarchisch sein, und sie weiß überhaupt nicht, wie sie damit heute um gehen soll, denn eigentlich hat sie schlecht geschlafen und so weiter, dann wird sie keinen guten Job machen. Und auf Dauer macht das krank. Auf Dauer macht das sehr krank. Und das ist für mich einer der Dreh-und-Angelpunkte, warum Diversität in Unternehmen oft nicht funktioniert. Ich höre das zum Beispiel viel von Unternehmen, die auf uns zukommen und sagen: Ja, wir brauchen mal endlich mehr Frauen in Führungspositionen. Das FüPoG II verlangt das ja jetzt, aber wir finden keine Frauen.

Und dann frage ich: Was haben Sie denn da schon alles unternommen? Was haben Sie alles schon an Maßnahmen ergriffen? Dann erzählen die mir auch immer ganz viele schöne Sachen, zum Beispiel auch, dass sie die Stellenausschreibungen schon ein bisschen angepasst haben, dass sie im Unternehmen selbst die Frauen empowern, dass sie da Seminare machen und so weiter. Und dann, wenn ich dann das erste Mal mit Mitarbeiterinnen spreche, erfahre ich von Mikroaggressionen und erfahre, dass viele Frauen, die neu ins Unternehmen kommen, während der Probezeit häufig schon wieder gehen, weil sie das nicht aushalten wollen. Wer hat da schon Bock drauf? Ich möchte auch nicht jeden Morgen irgendwas Ekliges essen müssen, nur weil es eben dazu gehört zum Frühstück, sondern ich möchte was haben, was mir gut tut. Und es muss jetzt nicht immer alles super Friede, Freude, Eierkuchen sein, aber ich möchte mich in meiner Person mit meiner Leistung gesehen und wertgeschätzt fühlen und nicht immer gleich Angst haben müssen. Jetzt kommt schon wieder irgendeinen doofer Spruch. Ich hatte in meinem letzten Anstellungsverhältnis zum Beispiel einen Gender Pay Gap. Auch das, ein ganz relevanter Punkt. Wir reden ja genau darüber: 14% zu meinem direkten Kollegen mit exakt derselben Stelle, mit schlechterer Qualifizierung als ich. Mit schlechterer und weniger Berufserfahrung hat er 14% mehr verdient als ich. Und das hatte zur Folge, wenn ich morgens ins Büro gekommen bin und dann kurz berichtet habe, was ich gerade wieder für Aktionen starte, das zu ändern, dass ich bei der Frauenbeauftragten war, hat dann der Vorgesetzte so was gesagt: Ruth, also ganz ehrlich, die 50 € im Monat (es waren mehr de facto, aber egal), die 50 € im Monat, jetzt stell dich doch mal nicht so an, andere Menschen ertrinken im Mittelmeer. Eine richtig schöne Mikroaggression, Und was macht das mit mir? Ich habe dann das Gefühl, ich habe nicht das Recht, für meinen Gender Pay Gap einzustehen und dafür zu kämpfen. Eigentlich hätte ich mehr Geld sogar verdient, denn ich war die Einzige im Team, die promoviert war, die Einzige mit wissenschaftlicher Berufserfahrung und so weiter und so fort. Ich gönne meinen Kollegen das Geld, verstehe mich nicht falsch. Ich wollte es dem auch nie wegnehmen, aber ich wollte mindestens – mindestens – dasselbe verdienen. Und ich habe immer und immer wieder diese Sprüche gehört, unter aller Kanone, von einem Vorgesetzten in der Wissenschaft, der unbefristet war, mit einem alten BAT-Vertrag und so weiter. Das kam ja noch oben drauf. Und irgendwann habe ich mich nicht mehr getraut, dahin zu gehen. Ich bin richtig krank geworden, das gebe ich hier offen zu. Es macht was mit der Psyche und die Psyche und der Körper hängen zusammen. Und ja, dann ist das eine Nebenhöhlenentzündung in meinem Fall, weil ich das Gefühl habe, nicht mehr klar atmen zu können. Aber bei anderen drückt sich das in einem Magengeschwür, in Rückenschmerzen, in weiß ich nicht was aus und irgendwann vielleicht wirklich im Burnout. Und welche Frau setzt sich jetzt nach jahrelangen Mikroaggressionen in ein Gespräch? Da kommen wir auch wieder aufs FüPoG II und auf das Thema Entgeltgleichheitsgesetz und so weiter, denn Verhandlungen sollen ja angeblich so wichtig sein, wobei ja das Gesetz das mittlerweile ausschließt. Aber welche Frau setzt sich dann da rein, nachdem sie 20 Jahre lang, die Mikroaggressionen ständig und ständig und ständig erlebt hat? Und sagt: Ja, ganz ehrlich, mein Job ist das wert! Geben Sie mir 20% mehr Gehalt.
Das musst du ja erst mal schaffen. Und wenn du diese Erfahrungen gemacht hast und ständig in deiner Leistung degradiert wurdest, ständig auf dein Äußeres reduziert wurdest (ja, der Rock ist zu lang, der Rock ist zu kurz, du bist zu laut, du bist zu leise, du machst dies falsch, du machst jenes falsch), dann wie sollst du das tun?

Und natürlich ist der Gender Pay Gap meines Erachtens eine logische Schlussfolgerung von Mikroaggressionen.

Natascha Heinisch:

Weil du vorhin auch gesagt hattest, mit der Desillusionierung: Hast du das Gefühl, es bewegt sich was? Oder wie ist dein Blick in die Zukunft? Du bist jetzt direkt an einer Stelle, wo du versuchst, das aufzubrechen, einmal auf Unternehmensebene und einmal auf der Individualebene. Aber wenn du jetzt gerade sagst, so ein Beispiel von jemandem, nach 20 Jahren ist wahrscheinlich ein sehr langer Prozess, dann da auch wieder ranzukommen, oder? So als Frau dann trotzdem: „Ja, ich sage das, weil ich das verdiene.“
Aus diesem Freeze rauszukommen.

Ruth Müntinga:

Ja, das ist hart. Ich schaffe es ja selbst noch nicht. Um mal wieder über das Thema zu sprechen, was wir uns selbst zutrauen und wie wir so ein bisschen bullshitten in der Wirtschaftswelt. Ich habe vieles schon verstanden, natürlich, und an vielen Stellen bin ich heute sehr viel weiter, natürlich. Nichtsdestotrotz sehe ich da bei mir immer noch wirklich im Potenzial nach oben. Und ich habe das zum Beispiel oft, dass mich dann Auftraggeber anrufen und sagen: Ja, du kannst ja mal kostenlos auf einer Konferenz von einem Großkonzern mit 5.000 Teilnehmenden meine Keynote geben. Dann sage ich: Ja klar, gerne. Natürlich. Was wollen Sie mir denn damit bezahlen? – Ja, nichts. Und dann sage ich: Hä? Wieso? Und die so: Ja, das ist ja auch voll die Publicity für Sie.

Natascha Heinisch:

Ich wollte gerade sagen, du hast ja dann „exposure“ und dann bist du bekannt.

Ruth Müntinga:

Genau, und dann kriegst du auch Vertrieb und vielleicht ergeben sich neue Aufträge daraus. Und wenn das ein Konzern ist, sage ich: Nein, reicht. Und das ist zum Beispiel etwas, was ich heute kann. Meine Vorträge, also nur so was wie Keynotes, Vorträge und Co, mache ich nach dem Marion du Faouët-Prinzip. Das war eine Frau im 19. Jahrhundert, die in Frankreich für Umverteilung gekämpft hat und dafür auch ihr Leben gelassen hat. Ich wollte es nicht Robin Hood-Prinzip nennen, weil ich eine Frau wollte. Und nach dem Prinzip mache ich Vorträge. Das bedeutet wirklich, du kannst dir aussuchen, wie viel du mir bezahlst für den Vortrag. Und wenn jetzt eine kleine NGO kommt, die sagt: „Wir haben wirklich gar keine Kohle, aber es wäre total wichtig und so weiter und ich mag die und das passt in mein Portfolio, es passt zu mir, es passt zu meinen Werten, dann mache ich das auch teilweise, also ganz, ganz selten, auch mal wirklich kostenlos. Was interessant ist, was so gut wie nie passiert, denn gerade die kleinen NGOs reißen sich sonst was auf, mir das Honorar zu geben, wo sie denken, dass es wirklich das Minimum ist, was ich bekommen sollte.

Natascha Heinisch

Es war ein langer Name, deswegen könnte ich Ihnen jetzt nicht nachsprechen, aber eine meiner Fragen, die ich in jeder Podcast-Folge stelle, ist ja, ob wir das Spotlight richten können auf eine weiblich gelesene Person, die vielleicht weniger bekannt ist und die bekannter werden sollten. Und den Namen deines Prinzips fände ich dazu jetzt sehr passend. Also nicht Robin Hood-Prinzip, sondern …

Ruth Müntinga:

Ja, es ist ein französischer Name, deswegen fällt es mir auch manchmal ein bisschen schwer. Aber hey, eine Challenge bringt uns ja immer weiter. Das ist das Marion du Faouët-Prinzip. So hieß diese Frau. Das ist auch nicht ihr Geburtsname. Sie wurde so genannt im Laufe ihres Kampfes für soziale Gerechtigkeit und es gibt wenig Quellen über sie und man kann das gerne mal nachlesen. Und ja, ich finde, das ist eine Frau, da könnten wir mal mehr drüber erfahren. Auf jeden Fall, das wäre schön.

Natascha Heinisch:

Passt super, weil das ist meine erste Frage zum Ende hin. Die zweite ist dann aber, aber ich finde, du hast schon sehr viel dazu gesagt, aber ich frage trotzdem natürlich wie immer: Was bringt dich aktuell zum Fauchen und was bringt dich zum Schnurren beim Thema equal pay?

Ruth Müntinga:

Ja, zum Fauchen bringt mich vor allem das Entgelttransparenzgesetz, das einfach ein zahnloser Tiger ist, womit wir einfach mal gar nichts anfangen können, so ungefähr. Also da finde ich, da ginge eine Menge mehr. Und zwar vor allen Dingen auch, wenn wir uns mal angucken, was wir in den letzten Jahrzehnten an Errungenschaften in Sachen Gleichstellung geschafft haben: Keines der Gesetze ist aus Deutschland herausgekommen. Es sind alles Gesetze, die nur durch die EU angestoßen wurden. Und das bringt mich noch mal mehr zum Fauchen, denn unsere Politik in Deutschland ist doch echt sehr männlich geprägt und hätten wir die EU nicht, wären wir, glaube ich, immer noch auf einem Level von 1965. Und ich müsste heute jetzt mal Ehemann fragen, ob ich dieses Interview geben darf. Das bringt mich sehr zum Fauchen. Auf der anderen Seite eben dann, zum Schnurren bin ich froh in der Hinsicht, dass wir die EU haben und dass sich dadurch eben Sachen bewegen, wenn auch das wiederum an Grenzen stößt. Wir haben zum Wir haben letztes Jahr eine große EU-Initiative gehabt, dass die Straftat der Vergewaltigung in die Liste der Euroverbrechen aufgenommen wird und das Land Deutschland hat diese Initiative verhindert. Und da bin ich wieder beim Fauchen.

Okay, also zum Schnurren muss ich echt mal kurz überlegen: Was bringt mich zum Schnurren? Vielleicht, dass immer mehr Preise und immer mehr öffentlichkeitswirksame Instrumente entstehen. Letzte Woche wurde eine Berliner Forscherin gekürt mit dem Berliner Frauenpreis für ihr Engagement für Gleichstellung und Entgeltgleichheit. Und das ist so was, was ich wichtig finde, dass das dann auch mit Geld hinterlegt ist, dass die Frauen an ihrer Arbeit weitermachen können, dass diese Themen immer noch sichtbar sind, denn wir haben noch mindestens fünf Generationen, bis wir Geschlechtergleichstellung erreicht haben, wenn wir in dem Tempo weitermachen wie bisher. Und da geht noch was.

Natascha Heinisch:

Ich habe das gar nicht erwartet, aber dass ich aus dieser Folge das Prinzip von Selbstvergebung, das bei mir so hängen geblieben ist. Vielen, vielen Dank dafür. Das ist auch für alles andere natürlich. Vielen Dank. Aber das ist, finde ich, eine ganz, ganz wichtige Botschaft, glaube ich, auch an ganz viele andere, die was erlebt haben, wo sie sagen: ach Mensch, blöd ist dann im Endeffekt, nach all den Jahren finde ich fast mich doofer, als den Menschen, der mir das gesagt hat, weil ich „falsch“ oder „nicht angemessen“ reagiert habe. Aber das war ein sehr, sehr, sehr wichtiger Input. Ich danke dir sehr. Falls ihr draußen noch Fragen an uns habt, diese Folge betreffend oder auch sonst das Thema Gender Pay Gap, equal pay betreffend, dann schreibt uns sehr gerne an info@equalpayday.de und folgt uns auch sehr gerne auf Social Media, da sind wir unterwegs unter dem Hashtag #EPD. Dann sage ich noch mal vielen, vielen Dank dir, Ruth, das war ein sehr kraftvolles und erhellendes Gespräch für mich und auch hoffentlich für alle anderen, die es anhören. Vielen Dank dir. Und an euch alle da draußen: tschüss.

Ruth Müntinga:

Ja, tschüss. Ich wünsche euch ganz, ganz viel Stärke und Gleichstellung für uns alle!

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